Münchner (Un-)Freiheiten: Literatur vor Ort
07.08.2024
Ein germanistisches Projekt zeigt die Repressalien auf, unter denen Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts standen – und verortet ihre Texte in der Münchner Stadtlandschaft.
07.08.2024
Ein germanistisches Projekt zeigt die Repressalien auf, unter denen Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts standen – und verortet ihre Texte in der Münchner Stadtlandschaft.
Zensiert, verbannt, verbrannt: Schon immer haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller unter Einschränkungen ihrer Freiheit gelitten und die Unfreiheit selbst zum Thema gemacht. Manche schrieben ihre Texte hinter Gittern. Andere mussten zusehen, wie ihre Bücher in Flammen standen. Das vielschichtige Projekt „Freiheits(w)orte“ verortet die Literatur in der Stadt München und ihrer Geschichte. Und zeigt einmal mehr auf, wie relevant Literaturwissenschaft sein kann.
„Wissenschaftskommunikation ist wichtig“, sagt Konstantin Schiller, „nicht nur in MINT-Fächern, sondern auch in der Germanistik.“ Der Lehramtsstudent hat gerade auf dem Geschwister-Scholl-Platz ein Gedicht von Joachim Ringelnatz vorgelesen, dem Hausdichter der Künstlerkneipe „Simplicissimus“, der so ärmlich lebte, dass er ein flehendes „Angstgebet in Wohnungsnot“ in den Münchner Himmel schickte.
Jetzt zieht Schiller mit einer Gruppe Studierender des interaktiven Projektseminars „Freiheits(w)orte“ der Germanistinnen Dr. Anna Axtner-Borsutzky und Rebecca Thoss die Ludwigstraße hinauf. Am Wedekindplatz, einem Symbol für die Schwabinger Boheme, war man an diesem verregneten Junitag schon – mit Roll-ups, einem tragbaren Soundsystem und spürbarer Freude am Vorlesen ganz unterschiedlicher Texte.
Auch vor der Feldherrnhalle werden die Seminarteilnehmenden lesen, für ein paar Neugierige und Interessierte. Um das Verständnis von Literatur zu vertiefen. Und um die Relevanz von Literatur und Literaturwissenschaft für die Gesellschaft aufzuzeigen. Denn in den sorgfältig gesichteten Texten und Biografien geht es ja um was. Nämlich um nichts Geringeres als die Frage, was Freiheit ist, was sie bedroht – und wie man in Unfreiheit schreiben und leben kann.
75 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes und 35 Jahre nach dem Mauerfall scheint das Thema gerade aktueller denn je. Der Krieg in Europa, der Rechtsruck auch in Deutschland und die unsichere Weltlage haben den Sinn für Jubelfeste getrübt. Umso wichtiger sind Initiativen wie der deutschlandweite Hochschulwettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und von „Wissenschaft im Dialog“, der zur intellektuellen Auseinandersetzung mit „Freiheit“ einlud. „Freiheits(w)orte“, das Projekt des Germanistischen Instituts der LMU, gehört zu den zwölf Gewinnern des Wettbewerbs.
„Die Freiheit der Sprache war und ist verschiedenen Einschränkungen ausgesetzt“, erläutern Axtner-Borsutzky und Thoss. Mit ihrem Projekt wollen sie Studierenden, Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe und einer größeren Öffentlichkeit vermitteln, dass Literatur nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern an Kontexte und Entwicklungen gebunden ist.
Das ausschweifende Leben der freiheitsliebenden Schwabinger Boheme, die politische Verfolgung Andersdenkender, die Bücherverbrennung: Tatsächlich steckt München voller Literaturgeschichten, die von Freiheit und Unfreiheit erzählen. „Freiheits(w)orte“ hat einige davon gesichtet und verortet sie mitten in der Stadtlandschaft.
Unter den Münchner Autorinnen und Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, deren Texte im Seminar analysiert wurden, sind zum Beispiel: die Literatin Emmy Hennings, die als Gelegenheitsprostituierte arbeiten musste („Ich bin so vielfach in der Nacht“). Der Schriftsteller Ernst Toller, der nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik wegen Hochverrats im Gefängnis einsaß und sein „Schwalbenbuch“ schrieb. Und natürlich Erich Kästner, dessen Bücher auf dem Königsplatz verbrannt wurden.
Aber das Projekt beschränkte sich nicht darauf, Texte mithilfe literaturwissenschaftlicher Methoden in einem Seminar zu bearbeiten und in historisch-literarischen Stadtspaziergängen zu präsentieren. Die Studierenden diskutierten auch in zwei Workshops mit Schülerinnen und Schülern aus Gilching und Harlaching über das, was Freiheit ist und Freiheit bedroht und wie Münchner Autorinnen und Autoren das Thema verarbeiteten.
Für Studienrat Emanuel Rüff vom Albert-Einstein-Gymnasium in Harlaching war der Workshop ein voller Erfolg: „Meine Schülerinnen und Schüler waren begeistert und positiv überrascht. Sie hätten nicht gedacht, dass ein Seminar an der Uni so viel Spaß und so wenig Langeweile mit sich bringen würde.“ Das ganze Konzept hat es ihm angetan: Es sei eine „tolle Idee“, den Sprung aus den Bibliotheken und Seminarräumen hinaus auf die Plätze zu wagen und Literatur mit der Geschichte vor Ort zu verbinden, so der Studienrat.
Seine Kollegin Franziska Stelzer vom Christoph-Probst-Gymnasium in Gilching lobt: „Die ‚Freiheits(w)orte‘ haben noch einmal ganz andere Zugänge zu literarischen Texten und zur Stadt eröffnet, als es im Unterricht möglich ist.“
Es ist erstaunlich, dass ein so kleines Wort wie Freiheit einen ganzen Raum öffnen kann, sowohl wissenschaftlich als auch persönlichRebecca Thoss
Auch der Lehramtsstudent Konstantin Schiller hatte an den Schülerworkshops besonders viel Spaß. Für ihn sei es spannend, Neugier zu wecken, Texte zugänglich zu machen und mit Angeboten aus der Literaturwissenschaft präsent zu sein, erzählt er auf dem Weg zur Feldherrnhalle. Häufig beschränke sich das Lesen von Büchern ja aufs Private. Dabei verhandelten Literatur und Literaturwissenschaft doch, was und wie der Mensch denkt, „seine Mentalität, die Ideologie, die Erfahrungen.“
Selbstredend erforderte das interaktive Projekt von den Studierenden und Leiterinnen eine Menge Engagement. Denn den entspannten Spaziergängen durch die Stadt ging eine akribische Planung voraus. Die Rechte, die Texte vorzutragen, mussten bei der VG Wort, die Erlaubnis, aufzutreten, bei der Stadt München eingeholt werden. Auch ein Instagram-Account wurde eingerichtet, um das Projekt digital zu begleiten.
Außer Frage steht jedoch, dass sich die Mühe auch für die beiden Projektleiterinnen gelohnt hat. „Es ist erstaunlich, dass ein so kleines Wort wie Freiheit einen ganzen Raum öffnen kann, sowohl wissenschaftlich als auch persönlich“, so Rebecca Thoss.
Das Seminar ist abgeschlossen, eine öffentliche Lesung im Rahmen des Projekts in der Mohr-Villa mit der Autorin Anne Rabe, die sich in ihrem Debütroman „Die Möglichkeit von Glück“ intensiv mit dem Thema „Freiheit und Literatur“ befasst, findet am 8. November 2024 statt.